Mobbing in der Schule: Hinsehen. Nachfragen. Handeln.

Das neue Schuljahr beginnt. Für viele Kinder und Jugendliche bedeutet das auch 2019: erwartungsvolle Anspannung, Hoffnung, Aufregung. Und für 14 Prozent von ihnen: pure Angst.

14 Prozent ist die statistische Zahl an jungen Menschen, die im Lauf ihrer Bildungskarriere von Mobbingerfahrungen betroffen sind, und zwar gravierend. In 9 von 10 Klassenzimmern und auf praktisch allen Schulhöfen Deutschlands spielen sich tagtäglich Dramen ab, die kaum jemand sieht. Mobbing geschieht vor aller Augen und wird doch fast immer zu wenig beachtet. Deshalb ist es so wirkungsvoll – und schädigend. Es schadet natürlich zuerst die Betroffenen, meist spricht man von „Opfern“, aber niemand will wirklich Opfer sein. Mobbing schadet auch den Tätern selber, den sogenannten Bullys, denn sie handeln nur aus vermeintlicher Überlegenheit, die keine wirkliche Stärke bedeutet. Viele von ihnen kompensieren ihre eigenen Minderwertigkeitsgefühle durch offene oder verdeckte Gewalt, und diese Gefühle bleiben bestehen, oft lebenslang. Mobbing schadet sogar den „Zuschauer*innen“ oder Mitläufer*innen – und selbst denen, die sich völlig rauszuhalten versuchen. Denn sie wissen ja, dass da etwas Ungerechtes passiert, dass sie achselzuckend am Leiden von Mitschüler*innen vorüber gehen. Es wird ihnen im Inneren ihrer Seele nicht egal bleiben, sondern langfristig Schuldgefühle verursachen. Und es schadet den Lehrerinnen und Lehrern, die oft zu spät einschreiten, sich damit überfordert fühlen oder keine passenden Konzepte haben zum Umgang mit feindseligen Handlungen gegen einen kleinen Teil der ihnen anvertrauten Schüler*innen.

Was in Europa meist als „Mobbing“ bezeichnet wird, heißt im angloamerikanischen Sprachraum „Bullying“. Gemeint ist immer das Gleiche: eine Vielzahl negativer Handlungen gegen eine unterlegene Person über längere Zeit, die zu sozialer Ausgrenzung führen. Mobbing ist ein Gruppenprozess, sonst würde man von einem Konflikt zwischen zwei Menschen sprechen. Aber erst durch die Dynamik einer Gruppe, bei Erwachsenen häufig das Arbeitsumfeld und bei Kindern eben die Schule oder Klasse, wird mit teilweise geringen Mitteln großer Schaden angerichtet.

Der etwas zu dicke, unbeholfen wirkende Junge, nennen wir ihn Erik, ist motorisch ungeschickt und langsam; wenn er stürzt, finden das alle lustig, also wird gern mal nachgeholfen, geschubst. Darüber kann man spotten und ihn bloßstellen, so dass er immer unsicherer wird, was seine Außenseiterposition verschlimmert – kaum jemand traut sich noch, mit ihm in Kontakt zu treten. Niemand will etwas mit einem „Loser“ zu tun haben. Und Erik erzählt auch seinen Eltern lange nichts von den immer größer werdenden Problemen, selbst wenn er blaue Flecke und zerrissene Sachen mit nach Hause bringt, weil er jetzt offen angegriffen und geschlagen wird. Er resigniert, flüchtet sich in virtuelle Welten wie bei Fortnite & Co. – Oder das sehr kluge, fast hochbegabte Mädchen, hier Paula, das auf alle Fragen im Unterricht eine Antwort weiß und diese für sich behält aus Angst, dafür als „Streberin“ und „Angeberin“ bezeichnet zu werden. Dabei ist sie einfach nur wissbegierig und dem Entwicklungsstand der Altersgenossen zwei Jahre voraus, was irgendwann auch die meisten ihrer Lehrer nervt. Ihren Stress verarbeitet sie durch noch mehr Selbstkontrolle, sie beginnt zu hungern und verletzt sich mit scharfen Gegenständen dort, wo es niemand sieht.  – Und Lydia, deren Eltern aus Osteuropa nach Deutschland gekommen waren, bemüht sich, besonders deutsch zu wirken, aber weil sie mit neun Jahren schon eine erkennbare Brustentwicklung hat und ihre Periode bekommt, findet sie nur ablehnende Reaktionen. Sie beginnt ihre Umwelt anzufeinden und schwärzt ihre beste Freundin an, wobei sie sich mit älteren, gewaltbereiten Mädchen verbündet und Straftaten begeht. Ihre Bauchschmerzen kommen nicht nur von der hormonellen Umstellung.

Diese und viele andere Kinder müssen mit den als extrem ungerecht und unverständlich empfundenen Aktionen weniger Mitschüler*innen und den Reaktionen der schweigenden oder applaudierenden Mehrheit zurecht kommen. Manche lassen sich gar nichts anmerken und stecken ihre Wut und Verzweiflung so lange es geht irgendwie weg. Andere werden aggressiv, wehren sich, entwickeln Auffälligkeiten und gelten als Störer*innen, dabei versuchen sie sich nur zu behaupten. Es hilft nichts, ihnen Medikamente gegen Hyperaktivität zu verordnen. Und wieder Andere werden immer stiller, weinen nur abends beim Einschlafen und ziehen sich komplett zurück, wollen oder können nicht mehr zur Schule gehen. Das führt bis hin zu schweren Depressionen, Angststörungen, grenzverletzendem Verhalten, Alkohol- und Drogenmissbrauch, psychosomatischen Beschwerden, Selbstverletzungen, manchmal zu einem ernsthaften Suizidversuch. Oder sie gehen noch einen Schritt weiter, wie es in jedem Jahr in vielen Ländern vorkommt und worüber die Medien möglichst nicht berichten, um keine Vorbildwirkung aufkommen zu lassen, keinen „Werther-Effekt“. Das ist in Zeiten der allgegenwärtigen elektronischen Medien und der sich ständig entwickelnden „social media“ kaum zu gewährleisten. Die Öffentlichkeit kann von Glück sagen, wenn es mal eine seriöse, ernsthafte Darstellung der Probleme von psychisch stark belasteten Jugendlichen wie in einer bekannten amerikanischen TV-Serie gibt, auch wenn selbst hier warnende Stimmen die Gefahr von Nachahmung und Identifikation sehen. Oft posten Betroffene in allen erdenklichen Varianten ihre Schwierigkeiten und Symptome in den Netzwerken, ohne wirklich gehört zu werden oder Hilfsangebote zu erhalten. Und Mobbing oder Bullying ist ein wesentlicher Grund für ihre Schwierigkeiten. Zumindest einer der wichtigsten Auslöser.

Wenn man sich genauer um die wahren Gründe kümmert, wie es Schulpsycholog*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Psychotherapeut*innen oder Kinder- und Jugendpsychiater*innen tun, sind die Befunde vielschichtiger. Dann erscheint das Mobbing eher wie ein Indikator oder Katalysator für bestehende Schwierigkeiten, denn: Die Schule ist der Ort des sozialen Aufeinandertreffens unterschiedlichster junger Menschen in ihrer empfindlichsten Entwicklungsphase. Hier stehen sie durch den eigentlich positiv gemeinten Konkurrenzkampf um gute Lernergebnisse auf einem „Markt der Fähigkeiten“, der auch ihre Probleme vor den Anderen offenlegt und sie verletzlich macht. Manchmal extrem verletzlich, besonders wenn man ohnehin zu einer Randgruppe oder Minderheit gehört. Das jeweilige soziale Klima ist sogar für das Lehrpersonal von Schule zu Schule höchst unterschiedlich. Auch bei ihnen gibt es viele, die nicht in jeder Situation zurecht kommen. Manchmal kommt es vor, dass sie sich mit ihren pädagogischen Mitteln vor der Macht einer Schulklasse oder vor einzelnen Schüler*innen und ihren Provkationen nicht mehr behaupten können und sich selber als Mobbingopfer fühlen. Freilich gibt es dieses Phänomen nicht selten auch umgekehrt, wenn unsensible oder überforderte Pädagog*innen bestimmte Kinder ausgrenzen und sie – gewollt oder ungewollt – dem Mobbing preisgeben, sie alleine lassen, in die Ecke drängen. Der zunehmende Leistungsdruck in der Gesellschaft, die soziale Auslese, scheint dies zu fördern.

Es gibt aber auch Ansätze, die durchaus verschiedene Persönlichkeitsmerkmale bei Bullys oder Betroffenen erkennen lassen – sie sind nicht zu verallgemeinern und dürfen keinesfalls zu einer Schuldzuweisung missbraucht werden. Jedoch sind Kinder aus sozial isolierten, unterprivilegierten Familien oder mit einer durch ihre frühesten Kindheitserlebnisse ausgelösten Bindungsstörung stärker gefährdet, „Mobbingopfer“ zu werden. Sie haben geringere Chancen, sich vertrauensvoll an ihre Bezugspersonen zu wenden oder gute Unterstützung zu erhalten, denn sie waren dabei noch niemals mutig oder erfolgreich. Und wenn der 12jährige Sohn eines suchtkranken Elternpaars, in deren Wohnung jede Woche mindestens einmal die Polizei anrücken muss, um eine Schlägerei zu beenden, seinen Schmerz und seine Wut an dem ihm eigentlich überlegenen Mitschüler auslässt, kann das auch nachvollzogen werden. Richtig oder erlaubt ist es selbstverständlich trotzdem nicht und bedarf immer der sofortigen aktiven Einflussnahme von verantwortlichen Erwachsenen. Aber was können sie tun, wenn sie erleben, was in der Schule oder zunehmend im virtuellen Raum an physischer, psychischer oder sozialer Gewalt abläuft? Oft ist es schon schwer genug zu erkennen, dass es sich bei Mobbing und Cybermobbing um handfeste, gefährliche Entwicklungen handelt, weil sie sich oft über lange Zeit durch eine Mauer von Schweigen auszeichnen. Die Beschämung der Betroffenen und manchmal auch versteckte Schuldgefühle der Anderen stehen dahinter.

Das erste und wichtigste ist: Hinsehen. Nachfragen. Wirkliches Interesse zeigen. Den*Der Betroffenen ebenso nahe sein wie denen, die solche Aggressionen begehen oder die „nur“ zusehen. Viele werden bei der ersten Ansprache nichts sagen oder alles bagatellisieren, sie brauchen ein geduldiges und konsequentes, aber auch hoch sensibles Nachhaken. Um den Bully nicht durch vorschnelle Verurteilung seines aggressiven, vielleicht sogar gewalttätigen Verhaltens für immer in die Ecke des „Bösen“ zu verbannen, in der er sich heutzutage ganz gut einrichten kann, wurde der „No blame approach“ erfunden. Das ist ein verstehender Interventionsansatz bei milderen Formen von Mobbing und besonders bei jüngeren Schüler*innen, die leichter für Aufklärung, Unterstützung und Lernen erreichbar sind. So sollen die Täter, statt vor der Öffentlichkeit nur verurteilt und abgewiesen zu werden, sich aktiv mit ihrem Handeln auseinandersetzen und im besten Fall sogar zu Expert*innen für die Hilfe Anderer zu werden, die wiederum unbedingt Anerkennung ihrer Situation und keine Bloßstellung erleben müssen. Aber Betroffene müssen unbedingt aus der Position des bedauernswerten „Opfers“ herausgeführt und zu aktiv handelnden, mutigen und vertrauensvollen Mitmenschen gemacht werden. Ohne eine wirksame Stärkung ihres Selbstbewusstseins werden sie immer wieder Gefahr laufen, gemobbt zu werden. „No blame“ ist keine verweichlichte Kuschelpädagogik, wie viele selbst ernannte Fachleute argwöhnen, sondern die bestmögliche Vorbeugung einer unendlichen Spirale von Gewalt, die Täter*innen sonst geradewegs bis ins Gefängnis führt. Sie beginnt im Klassenzimmer, manchmal schon im Kindergarten.

Aber selbstverständlich muss es Menschen geben, die auch mit klaren, deutlichen Worten und Handlungen zunächst dafür sorgen, dass jede Form von Gewalt gestoppt wird und Mobbingerfahrungen genau aufgeklärt werden. Die einwöchige Suspendierung vom Schulunterricht, die momentan die Regel bei erheblichen Schulpflichtverletzungen und Störungen der Hausordnung ist, kann hier keinesfalls reichen. Bei allem Verständnis für Entstehungsbedingungen braucht es souveräne Erwachsene, die ansagen, wo die Grenze ist und die sich nicht an der Nase herumführen lassen. In jeder Schule und anderen Bildungseinrichtungen gibt es Mitarbeiter*innen, denen großer Respekt von allen Beteiligten entgegengebracht wird, das muss nicht immer der*die Schulleiter*in sein. Und der*die Schulsozialarbeiter*in, die beide Seiten der Medaille kennt und versteht, darf in gar keinem Fall mit diesem Problem allein gelassen werden. Neben offenen, klaren Gesprächen im Kontext der Klasse oder mit den Eltern braucht es auch die gegenseitige Beratung der Lehrkräfte, die endlich lernen müssen zuzugeben, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Oder externe Supervision. Studien zeigen auf, dass bis zu 85 Prozent der Lehrer*innen von sich behaupten, Mobbing zu bemerken und zu stoppen, aber nur 35-40 Prozent der Schüler*innen würden das bestätigen. Alle Erwachsenen brauchen eine intensive Auseinandersetzung mit ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Gewalt und wirksamer Hilfe, nicht nur im Fall von Mobbing. Wer sich aber selbst als unwirksam erlebt, nicht genug gehört zu werden glaubt oder ein autoritäres Verständnis von Gehorsam statt demokratischer Überzeugungen mit sich herumschleppt, wird die Situation niemals richtig beurteilen oder seine Möglichkeiten falsch einschätzen. Und welche Schule schickt ihr Lehrpersonal regelmäßig auf Fortbildungen zum Thema Mobbing, Cybermobbing oder Gewalt an der Schule?

Einige besonders gewalttätige Schüler, teils auch Mädchen, können nur durch eine unmittelbare Konfrontation mit ihrem Verhalten auf einen anderen Weg gebracht werden, besonders wenn sich ihre Konfliktlösungsstrategie im Intrigieren, Verächtlichmachen oder Schlagen erschöpft. Dann können Anti-Aggressionstrainings durch geschultes Personal mit einem guten Konzept zu Änderungen führen – möglichst freiwillig und nicht erst auf richterliche Anordnung. Die allermeisten Mobbingvorfälle können und sollten aber weit vorher beendet werden; dafür müssen wir sie erkennen. 

Und wer sich informieren oder weiterbilden will, kann dies z.B. auf einschlägigen Websites tun, von denen etwa www.schueler-mobbing.de von Werner Ebner, bei „Planet Wissen“ auf der ARD-Homepage, www.schueler-gegen-mobbing.de, www.starkauchohnemuckis.de geeignet sind. Auch sind in den letzten Jahren gute Bücher erschienen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema beschäftigen, z.B. „Mobbing in der Schule“ von Karl Gebauer (Beltz Verlag), „Schnelles Eingreifen bei Mobbing“ von Wolfgang Kindler (Verlag an der Ruhr), „Mutig gegen Mobbing in Kindergarten und Schule“ von Francoise Alsaker (Hogrefe) oder „Du Opfer! Wenn Kinder Kinder fertig machen“ von Mechthild Schäfer (rororo). Wenn die Probleme allein nicht gelöst werden können, stehen Beratungsstellen und Schulpsycholog*innen zur Verfügung; bei größeren psychischen Problemen oder Traumatisierungen kann eine psychiatrische Behandlung oder Psychotherapie erforderlich werden. Das Wichtigste ist aber: Als Eltern und Pädagog*innen oder einfach als Mitmenschen sollten wir unseren Kindern nahe sein und auf ihre teils verborgenen Signale achten, ohne sie zu bevormunden. Das verhindert lebenslange „Opfer-Karrieren“ und macht unsere Gesellschaft stark. So wird die Schule wieder zu einem guten Ort des Lernens und der Vorbereitung auf das Leben, denn: Hirn will Arbeit. Nicht Angst. Wir alle werden davon profitieren.

Autor: Joachim Perlberg,
Leitender Oberarzt der Salus-Tageskliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dessau-Roßlau und Lutherstadt Wittenberg; Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie

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