Wenn Philipp zappelt und trotzt: Schlecht erzogen oder krank?

von Edda Gehrmann

Auf der einen Seite: Extrem herausfordernde Kinder, die unter ständiger Ablehnung leiden. Verzweifelte Eltern am Ende ihrer Kraft. Und eine Diagnose, die alles ändern könnte, weil es Hilfe gibt: ADHS. Auf der anderen Seite: Skeptiker*innen, die Symptome als kindgerecht originelles Verhalten interpretieren. Oder vom Resultat schlechter Erziehung und der reizüberfluteten Leistungsgesellschaft sprechen. Was also tun mit dem „ Zappelphilipp “?

Oh nein, da kommt wieder die Frau mit diesem Kind. Die Mutter kann inzwischen die Gedanken der anderen lesen. Auf der Wiese im Schwimmbad bildet sich eine „Sicherheitszone“ um sie und ihren Sohn. Auf dem Spielplatz setzt Aufbruchstimmung ein, wenn sie sich nähern. Sie kann das sogar verstehen. Sie liebt ihr Kind, aber sie ist auch erschöpft von seinen ständigen Wutausbrüchen, den Spielsachen, die durch die Wohnung fliegen, dem Geschrei, dem Kampf um jeden kleinen Handgriff. Ihre Ermahnungen kommen selten zu ihm durch. Manchmal muss sie aufpassen, dass ihr nicht die Hand ausrutscht. Dann wieder stehen ihr die Tränen in den Augen, wenn der kleine Kerl sich nach einem seiner ungezählten heftigen Ausraster bei ihr entschuldigt. Er sieht in diesen Momenten genauso ratlos aus wie sie: „Mama, das kommt einfach so aus mir raus.“ Ihr Junge sei ja total gestört, hat neulich eine Bekannte zu ihr gesagt. Vielleicht, dachte sie da, ist er ja wirklich krank?

Grenze zu psychischer Störung fließend

Kinder sind ungeduldig, leicht ablenkbar, achtlos, ungehorsam, aufgeregt, ungestüm. Sie rennen und springen gern, machen auch mal Spielsachen kaputt. Sie müssen eben erst lernen, ihre Aufmerksamkeit bei einer Sache zu halten. Und es gehört dazu, dass sie die Geduld ihrer Eltern strapazieren. Die Grenzen zwischen dem, was wir als normal empfinden, und einer behandlungsbedürftigen Störung sind fließend. Mangelnde Konzentration, hohe Impulsivität und starke körperliche Unruhe, die für ADHS typischen Symptome, kennen viele Menschen. Der Verdacht einer psychischen Störung liegt jedoch erst nahe, wenn diese Erscheinungen erheblich stärker zutage treten, als es dem jeweiligen Alter entsprechen würde. Dass sich zum Beispiel Kindergartenkinder  länger als eine Viertelstunde konzentrieren sollen, wäre eine unrealistische Erwartung. Und wenn dem Sohn oder der Tochter nach dem Wechsel aufs Gymnasium plötzlich das Lernen schwerer fällt, liegt das in der Regel an gewachsenen Anforderungen. ADHS-Symptome hätten sich meistens schon viel früher gezeigt.

Ist es ADHS? Sorgsame Diagnostik gefragt

Die öffentliche Diskussion um ADHS läuft mitunter kontrovers und emotional. Die unterschiedlichen Sichtweisen können Eltern verunsichern. Sicher ist: Obwohl ADHS häufig auftritt, darf die Diagnose nicht als Allerweltserklärung herhalten, wenn der Nachwuchs Schwierigkeiten macht. Sorgsame Diagnostik ist nötig, denn: Nicht jeder Zappelphilipp oder Störenfried ist ein*e  ADHS-Patient*in. Nicht jedes ADHS-Kind zappelt und stört. Hinter den Symptomen können neben einer organischen Ursache vielschichtige emotionale und soziale Probleme stecken. Ob am Ende tatsächlich ADHS diagnostiziert wird  oder nicht – es gibt viele Wege, den Kindern und Jugendlichen zu helfen.

Die Behandlung – individuell wie das Kind selbst

Bestätigt sich der ADHS-Verdacht, rücken Aufklärung, Beratung und ein individueller Behandlungsplan auf die Tagesordnung. Und damit auch die Entscheidung, ob die psychotherapeutischen und heilpädagogischen Ansätze mit Medikamenten unterstützt werden sollten.  Die teils heftige Debatte um den Wirkstoff Methylphenidat, beispielsweise enthalten im Ritalin, schürt bei Eltern oft Sorgen: Wird das Kind davon apathisch und schläfrig? Aufschluss bietet hier die fachärztliche Beratung:  ADHS-Medikamente kommen  zum Einsatz, wenn der Leidensdruck des*der jungen Patient*in sehr hoch ist und andere Maßnahmen zur Verbesserung der Symptome versagen oder nicht ausreichen. Die Präparate stumpfen das Kind aber nicht ab, sondern verbessern die Konzentration, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle. Für die meisten Patient*innen ist das sehr hilfreich, um wieder aufnahmefähig zu werden und sich anderen therapeutischen Maßnahmen zu öffnen. Eine intensive Abwägung von Nutzen und (eher selten auftretenden) Nebenwirkungen sollte im Gespräch mit dem*der behandelnden Ärzt*in erfolgen und nicht aus dem Internet gespeist werden. ADHS ist eine Störung mit vielen Gesichtern. Jedes Kind ist anders. Nur auf den Einzelfall bezogen kann beurteilt werden, welche Hilfen geeignet und sinnvoll sind.
Eltern mit psychisch auffälligen Kindern finden in den Ambulanzen, Kliniken und Medizinischen Versorgungszentren der Salus erfahrene Ansprechpartner*innen.

Hinweis

Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und erhebt nicht den Anspruch, alle Facetten der komplexen Thematik zu beleuchten.

Fachliche Begleitung

Dr. med. Edeltraud Dögel
Dr. med. Uwe-Jens Gerhard
Dr. med. Beate Schell
Dr. med. Ute Ebersbach

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