Fachklinikum Uchtspringe

Aktuelles

Wenn hörgeschädigte Kinder und Jugendliche psychisch krank werden

Chefärztin Dr. med. Beate Schell
Das Deutsche Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen ist in die Klinik I für Kinder- und Jugendpsychiatrie Uchtspringe integriert.
Das Bällchenbad ist ein Spielbereich, wo Kinder spielen, "abtauchen" und sich austoben können. Bei psychischen Erkrankungen kann ein Bällchenbad hilfreich sein, um Ängste hinter sich zu lassen und zu entspannen.
Zum Tag der Gehörlosen am 29. September 2024

Hansestadt Stendal I Uchtspringe. Der Tag der Gehörlosen wurde 1951 von der World Federation of the Deaf (WFD) ins Leben gerufen. Er wird jedes Jahr am letzten Sonntag im September begangen, um auf die Lebenssituation hörgeschädigter Menschen aufmerksam zu machen und für die damit verbundenen Herausforderungen zu sensiblisieren. Im Salus-Fachklinikum Uchtspringe gibt es seit 1993 das bundesweit anerkannte Spezialzentrum für hörgeschädigte für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen. Es steht unter chefärztlicher Leitung von Dr. med. Beate Schell, mit der wir über einige Aspekte der therapeutischen Arbeit sprachen.  

Aufgrund welcher Probleme kommen hörgeschädigte Kinder und Jugendliche in Ihre spezialisierte Behandlung?
Überwiegend sind es Verhaltensstörungen, die zur Aufnahme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie führen. Oft ist eine Situation erreicht, in der anscheinend nichts mehr geht und die Bezugspersonen in Familie, Schule und anderen Lebensbereichen ratlos sind. Viele der Kinder haben schulische Misserfolge und soziale Isolation erlebt und darauf mit Aggressionen, Rückzug oder anderen Verhaltensauffälligkeiten reagiert. Besonders schwierig kann es sein, wenn ein Kind auch in einer Sonderschule oder in anderen Förderbereichen nicht zurechtkommt, also kontakt- und kommunikationsgestört unter Hörgeschädigten bleibt. Leider kommt es aufgrund von Informationsdefiziten und Berührungsängsten mit der Psychiatrie immer noch vor, dass Betroffene sehr spät in unsere spezifische Behandlung finden, obwohl die psychischen Probleme schon über einen sehr langen Zeitraum bestanden.

Warum ist ein vollstationäres kinder- und jugendpsychiatrisches Spezialangebot für hörgeschädigte junge Menschen auch im Zeitalter der Inklusion sinnvoll? 
Die Entwicklung hörgeschädigter Kinder weist einige Besonderheiten und Herausforderungen auf, die ohne entsprechende Erfahrung oft schwer zu erkennen sind. Wenn keine Kenntnisse in der Gebärdensprache oder mit Lautsprachbegleitenden Gebärden vorhanden sind, wäre ein integratives oder inklusives Setting nicht so einfach herzustellen. Unsere langjährige Erfahrung bei der Diagnostik und Therapie von hörbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen ermöglicht es, individuelle Lösungen zu entwickeln und spezifische Therapieangebote zu konzipieren. Beispielsweise fehlt es oft an einem Wortschatz, der eine Psychotherapie erst möglich macht. Hier ist dann ein entsprechender Wortschatzaufbau Voraussetzung und Bestandteil der Therapie.

Was können Eltern präventiv für die psychische Stabilität ihres Kindes tun, wenn es von einer Einschränkung des Hörvermögens betroffen ist? 
Ganz wichtig ist, dass die Hörstörung überhaupt rechtzeitig erkannt wird, möglichst schon im Säuglingsalter, lieber einmal zuviel als einmal zu wenig Diagnostik. Jeder Monat, den eine Hörschädigung später entdeckt wird, wiegt schwer bei der sprachlichen Entwicklung und gesamten Persönlichkeitsentfaltung. Wird eine Hörschädigung festgestellt, ist zunächst die medizinische Seite zu betrachten. Dies kann Eltern oft vor schwierige Entscheidungen stellen, so zum Beispiel im Hinblick auf eine mögliche Cochlea-Implantat-Versorgung bei hochgradigen Hörverlusten. Ganz wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung ist es jedoch, alle psychosozialen Aspekte im Blickfeld zu haben. Eine Hörschädigung  betrifft im Kern die gesamte Kommunikation innerhalb einer Familie und im sozialen Umfeld. Deshalb ist eine maximale sprachliche Förderung sinnvoll und unbedingt anzuraten. Methodisch sind zum Beispiel die Babyzeichensprache baby signs, Hausgebärdensprachkurse, Frühförderung oder Logopädie möglich. Bei der Auswahl helfen die pädaudiologischen Beratungsstellen und Landesbildungszentren gerne weiter.

Welche Möglichkeiten gibt es noch, um die Persönlichkeitsentwicklung im Angesicht einer Hörschädigung zu fördern?
Idealerweise haben Eltern schon früh Kontakt zu anderen Familien mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen oder auch Erwachsenen, die von dieser Einschränkung betroffen sind. Diese haben nicht nur Erfahrung mit der medizinischen Perspektive, sondern können Mut machen und Vorbild dafür sein, wie sich das Leben mit einer Hörschädigung gut und schön gestalten lässt. Da die Beeinträchtigung ja meist bestehen bleibt, kann eine frühzeitige An-bindung an die Hörgeschädigten-Community eine nicht zu unterschätzende Ressource zur Bewältigung von Problemen und Schwierigkeiten sein. Für Kinder ist es wichtig, dass auch bei einer möglichst weitgehenden Inklusion die Peer Group mit anderen hörgeschädigter Kindern und Jugendlichen zur Verfügung steht.

Hintergrund-Information: Über das Deutsche Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen
Im ehemaligen Bezirkskrankenhaus Uchtspringe wurde 1968 begonnen, mit gehörlosen und von Mehrfachbehinderungen betroffenen Kindern zu arbeiten. Es war die einzige Einrichtung der DDR, in der die damals als „schulbildungsunfähig“ bezeichneten Mädchen und Jungen mit Hörschädigungen aufgenommen, gefördert und gebildet wurden. Um kommunikativen Zugang zu diesen folgenschwer isolierten jungen Menschen zu finden, hielt bereits damals die Gebärdensprache im klinischen Alltag Einzug. 
Das große Reservoire an Spezialwissen, Verständnis und Erfahrung führte nach der Wende  dazu, dass in Uchtspringe das „Deutsche Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen“ gegründet wurde: Es war im Jahr 1993, als mit den Krankenkassen eine entsprechende Vereinbarung geschlossen werden konnte. Seither werden schwerhörige und gehörlose Patient*innen aus dem ganzen Bundesgebiet hier behandelt, vereinzelt auch aus anderen deutschsprachigen Ländern. 
Das Therapiekonzept ist integrativ ausgerichtet, die hörgeschädigten Kinder und Jugendlichen werden also in der Gemeinschaft mit hörenden Mädchen und Jungen behandelt. Bei der Therapie arbeiten verschiedene Berufsgruppen interdisziplinär zusammen, u.a. Fachkräfte aus Medizin, Psychologie, Pädagogik, Pflege und Heiler-ziehungspflege, Logopädie,  Ergo-, Physio-, Sport- und Musiktherapie. Die Kommunikation wird durch lautsprachbegleitende Gebärden erleichtert, die von den beteiligten Mitarbeitenden entweder schon beherrscht oder im Rahmen der Weiterbildung erlernt werden. Kinder lernen schnell lautsprachbegleitende Gebärden. Für Jugendliche gehört es zu dem Therapieprogramm dazu, dass hörende und hörgeschädigte Jugendliche gemeinsam Gebärden lernen und im Alltag auch anwenden. 

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