Wenn Brot und Äpfel rufen - Altersgerechte Verantwortung übernehmen

von Cornelia Heller

„Zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich!“, ruft das Brot aus dem Backofen im Märchen der Gebrüder Grimm. Und der Baum bittet: „Schüttle mich, schüttle mich! Meine Äpfel sind alle miteinander reif!“ Wie die Prüfungen der Frau Holle für die beiden Mädchen enden, ist in die Weltliteratur eingegangen: Während die eine die Aufgabe ohne Zögern meistert, Brot und Äpfeln hilft und dafür mit Gold belohnt wird, nimmt die Geschichte für die Faule bekanntermaßen einen weniger guten Verlauf. Nun könnte man meinen, alles drehe sich hier um Lust oder Frust, Fleiß und schließlich den Preis. Wer aber genauer hineinliest, der erkennt – bei allen Überhöhungen, die so ein Märchen zeichnet – die Moral der Geschicht‘: Es geht um verantwortungsvolles Handeln und darum, dass es erlernt werden will. Jeder Mensch muss für sich selbst, seine Entscheidungen und sein Handeln Verantwortung übernehmen. Sich dessen bewusst zu werden und zu sein, ist sicher eine Alters-, aber zuallererst eine Lernaufgabe.

Aber wie erwirbt der Mensch diese zentrale Lebenskompetenz? Eltern wissen: Das Leben wird für ihr Kind mannigfach Bewährungsproben und Entscheidungssituationen bereithalten. Es vor Gefahren zu beschützen und vor Schaden zu bewahren, ist dabei ein natürlicher und richtiger Reflex. Die Herausforderung und Kunst ist jedoch die der Balance. Denn Entwicklung braucht jenseits von Überversorgung und Dauerbehütung gewährten Freiraum, Mut zum Risiko – und Erfahrung, die sich das Kind entsprechend seinem Alter allein durch eigene Übung aneignen kann.

„Dem Tag Struktur geben, gemeinsam Regeln aufstellen und daraus Aufgaben für das kleine und große Kind abzuleiten, sind dabei unerlässlich“, unterstreicht die Familienhelferin Corina Vogler vom Kinder- und Jugendheim Schloss Pretzsch. Etwa im Haushalt. Klar verteilte Aufträge wie das eigene Geschirr und das der anderen nach dem Essen abzuräumen, den Müll zum Container zu bringen oder das Haustier zu versorgen, „sind einfach zu lösen und vermitteln zugleich die Botschaft: Wenn jeder seinen Beitrag leistet, läuft der Laden besser“. Der zerbrochene Teller, der gerissene Müllbeutel oder der vergessene Futtereinkauf für den Hamster sind dabei einkalkuliert und lehren für die Zukunft Vorsicht und Vorsorge.

Lob ist wichtig und spornt an. Wer Anerkennung durch andere als Bestätigung für erfüllte Aufgaben erhält, läuft mit Stolz durchs Leben. Und sucht sich im besten Fall auf eigene Faust neue und (be)glückende Herausforderungen, um wiederholt Lob zu erhalten. „Lob ist ein starkes Mittel, das schon im frühesten Kindesalter wirkt. Ob bei der sauberen Windel, beim Aufessen oder Spielzeugwegräumen.“

Verantwortung für sich und das eigene Handeln zu übernehmen, gilt auch in Bezug auf die Menschen im Umfeld, auf deren – und nicht nur das eigene – Wohlergehen, dem Respekt vor Person und Eigentum, und ganz allgemein das Erlernen von Formen im Umgang (auch im Ton) wie Höflichkeit, Freundlichkeit und Entgegenkommen. „Kinder brauchen die Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung, um daran zu wachsen“, gibt Corina Vogler den Eltern, die bei ihr Hilfe suchen, mit auf den Weg und verweist hier auf die nicht zu unterschätzende Wirkung des guten Vorbilds: „Es entscheidet maßgeblich über gelingende altersgerechte Entwicklung.“ 

Familie, Kita und Schule sind hier die ersten und geschützten Räume, um aus Fehlern lernen und immer wieder nach neuen Lösungswegen suchen zu können, wenn etwas nicht gut funktioniert hat. Auch mit Kreativität und Phantasie. Rollenspiele etwa, wie im Dialog gesprochene oder gespielte Märchen und Geschichten zur Übernahme fremder – und zuweilen befremdlicher – Charaktere, sind eine wunderbare Möglichkeit, schon im frühen Kindesalter prägende Erfahrungen fürs Leben zu sammeln. Denn: Keiner will per se die Pechmarie bei Frau Holle sein. Wenn Brot und Äpfel rufen.

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