Vom Wert der Rituale: In der Wiederholung liegt die Kraft

von Edda Gehrmann

Von der Feier der Geburt bis zum Abschied am Grab ziehen sich Rituale wie eine Richtschnur durch das Leben. Ein Teil von ihnen ist mit gesellschaftlichen Konventionen, Religionen, Traditionen oder speziellen Ereignissen verknüpft, ein anderer Teil wiederum sehr persönlich. „Wenn wir keine Rituale hätten, wäre unser Leben ein Chaos“, sagt die Psychologin Angelika Klabunde von der Salus. Manchmal sind sie so fest in unserem Alltag verankert, dass wir ihre Bedeutung erst bemerken, wenn sie plötzlich fehlen. Eine Kindheit ohne Rituale kann sogar schwerwiegende seelische Folgen haben. 

 
„Piep, piep, piep – recht guten Appetit!” Der kleine Ole besteht neuerdings darauf, jede Mahlzeit mit einem Spruch zu eröffnen. Er buhlt damit nicht einfach um die Aufmerksamkeit der Erwachsenen am Tisch, sondern zelebriert ein liebgewonnenes Ritual aus dem Kindergarten. Alle sitzen beieinander, gleich gibt es etwas zu Essen: Ole weiß, was als nächstes geschieht und er freut sich darauf. So simpel solche Dinge erscheinen, so wichtig sind sie für Kleinkinder, deren Gehirn sich stark entwickelt. Ein Lied zum Aufstehen, ein Kuss zum Abschied, ein Spiel zur Begrüßung, eine Gute-Nacht-Geschichte – so etwas vermittelt ihnen Struktur und erleichtert den Eltern alltägliche Abläufe. Gemeinsames Essen ist außerdem für das Wir-Gefühl und die Geborgenheit in der Familie besonders wichtig. 

Ankerpunkte im Alltag sorgen für Stabilität 

„Je jünger ein Kind ist, desto mehr helfen Rituale und Gewohnheiten, die Hirnreifung voranzubringen. Alle Handlungen können ritualisiert werden, indem sie einer bestimmten Form folgen, beispielsweise dem zeitlichen Ablauf: erst waschen und Zähne putzen und dann kommt der Sandmann. Rituale haben einen klaren Anfang und ein Ende, sind wiederholbar und wiedererkennbar. Sie können mit Symbolen oder Gegenständen mit Symbolcharakter verbunden sein, zum Beispiel mit dem Weihnachtsbaum, der Schultüte oder dem Lieblingskuscheltier. Rituale hinterlassen Spuren im Kurz- und Langzeitgedächtnis, sie erleichtern den Tagesablauf, indem sie den Kindern helfen, ihren Tag zu strukturieren, und sie sind wichtige Orientierungshilfen. Dabei liegt in der Wiederholung die Kraft“, erklärt Angelika Klabunde. Die Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin beobachtet, dass Rituale wieder an Wert gewinnen. Solche gemeinsam erlebten, wiederkehrenden Handlungen galten eine Zeit lang als altmodisch und unflexibel.

Ankerpunkte im Alltag sind jedoch gerade für Kinder weit mehr als ein Beschäftigungselement. Sie wirken sich positiv auf ihre psychische Gesundheit, ihr Selbstwertgefühl und ihre Lebensfreude aus. „Kinder, die viel Gleichmäßigkeit und Kontinuität erfahren haben, sind viel besser gewappnet gegenüber Veränderungen. Sie bringen eine Grundsicherheit mit, von der aus sie flexibel planen können. Wer jedoch chaotische Verhältnisse in der Kindheit erlebt hat, bleibt oft ein Leben lang auf der Suche, ist oft unsicher und ängstlich“, so Angelika Klabunde. „Zu wissen, was passiert, kann dabei helfen, Kinder zur Ruhe kommen zu lassen. Das Leben ist stressfreier, wenn die Welt vorhersehbar ist. Wenn Kinder in bestimmten Situationen die Abläufe kennen, wird auch den Eltern das Leben erleichtert, denn Kinder mit Ritualen sind einfacher zu managen“.
  
Ole hat Glück. Seine Familie gestaltet nicht nur den Alltag, sondern auch die Höhepunkte des Jahres liebevoll mit kleinen Ritualen. An seinem Geburtstag steht immer ein bunter Zug aus Holz auf dem Tisch und in seiner Lieblingstorte stecken kleine Kerzen – eine für jedes Lebensjahr. Weihnachten bleibt der geschmückte Baum bis zur Bescherung geheim, und erst wenn ihn dann alle gebührend bestaunt haben, gibt es die Geschenke. Eines Tages wird Ole vielleicht über diesen Brauch schmunzeln, während er in seiner eigenen Familie den Heiligen Abend vorbereitet. Rituale aus der Kindheit können uns positive Erinnerungen bis ins Erwachsenenalter schenken.  
 

Altes bewusst beenden, um für Neues offen zu sein 

Rituale helfen aber auch dabei, mit Vergangenem abzuschließen und sich für einen neuen 
Lebensabschnitt zu öffnen. Ole wird vielleicht beim Abschied vom Kindergarten eine kleine Zuckertüte von einem Baum pflücken und bei seiner Einschulung eine so große bekommen, dass er sie kaum festhalten kann. Er wird Abschlussfahrten erleben, feierlich an einer Universität immatrikuliert werden oder in einer festlichen Zeremonie als Geselle freigesprochen. Vermutlich wird er jedes Mal, wenn er an einen neuen Arbeitsplatz kommt, seinen Einstand geben. Auch er wird eines Tages geliebte Menschen verlieren und dann für den vorherbestimmten Ablauf einer Trauerfeier mit ihren heilsamen Abschiedsritualen dankbar sein. 
Rituale begleiten uns das ganze Leben hindurch. In einem ausgefüllten Alltag können sie uns dabei unterstützen, gut für uns selbst zu sorgen. Ritualisierte Pausen im Arbeits- oder im Familienalltag ermöglichen es zum Beispiel, innezuhalten und von den zahlreichen Anforderungen der Umwelt einen Moment lang zu sich zurückzukehren. Das kann eine in Ruhe zubereitete Tasse Tee zu einer festen Zeit sein, eine Minuten-Meditation, ein Spaziergang in der Mittagspause, bewusstes Atmen vor wichtigen Entscheidungen, der unverrückbare Freundinnen-Abend oder die Sahnetorte im Lieblingscafé zum Start ins Wochenende. Wer es schafft, seinen Tag mit kleinen Oasen zu spicken, um die Akkus wieder aufzuladen, wird seine Herausforderungen entspannter meistern. Und nicht anders als in der Kindheit gilt auch hier: In der Wiederholung liegt die Kraft.
 

Hinweis

Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und erhebt nicht den Anspruch, alle Facetten der komplexen Thematik zu beleuchten.

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