Wenn die Kinder schlechte Zensuren nach Hause bringen, hängt in vielen Familien der Haussegen schief. Schimpfen und Strafen helfen jedoch weder dem Kind noch den besorgten Eltern. Im Gegenteil: Eine Atmosphäre der Angst schadet der Beziehung zueinander und kann das Kind in seinem Selbstwertgefühl erschüttern. Stattdessen sollten beide Seiten gemeinsam dem Leistungstief auf den Grund gehen.
Thomas dreht noch eine Ehrenrunde durch den Park. Die Mathearbeit liegt ihm wie ein Stein im Magen. Was werden nur seine Eltern sagen? Eine Fünf! Letztes Mal konnte er wenigstens eine Drei schaffen. Mama hatte mit ihm geübt und sich gefreut, dass er sich verbessern konnte. Und nun das. Als er die Wohnungstür aufschließt, kommt ihm Mama entgegen. „Wo warst du denn so lange, Thomas!“ Sie blickt in das zerknirschte Gesicht ihres Jungen und reißt sich zusammen. „Die Mathearbeit?“ Thomas nickt mit gesenktem Kopf. Er zieht die Blätter aus der Schultasche und hält sie ihr hin. „Da hattest Du wohl nicht so einen guten Tag“, sagt sie und schaut traurig auf das Papier. „Was war denn so schwer daran? Hat dir die Zeit nicht ausgereicht? Oder konntest du dich nicht konzentrieren?“ Thomas zuckt müde mit den Schultern. „Na, wir reden später nochmal darüber“, sagt sie, und nimmt ihren Jungen in den Arm. „Jetzt ruh‘ dich erstmal aus“.
Nora überlegt, ob sie abhaut. Es läuft einfach nicht in der Schule und ihre Eltern machen jedes Mal Stress wegen der Noten. Jetzt bringt sie die nächste Drei in Chemie nach Hause. Dabei hätte es schlechter ausgehen können. Aber sie weiß jetzt schon, was kommt: Hast du wieder nicht richtig aufgepasst? Kannst du dich nicht einmal richtig vorbereiten! So schaffst du es nie aufs Gymnasium! Papa ist neulich richtig ausgeflippt und hat sie als Dummkopf beschimpft, aus dem sowieso mal nichts wird. Manchmal glaubt sie das selbst schon und bekommt große Angst. Die zeigt sie aber nicht. „Wahrscheinlich muss ich wieder ohne Abendessen ins Bett und die nehmen mir das Handy weg“, denkt Nora. Soll’n sie doch. Sie weiß nicht, wohin, und geht irgendwann doch nach Hause. Nach dem üblichen Streit mit ihren Eltern kriecht sie einsam unter ihre Bettdecke und weint. In die Schule mag sie nicht mehr gehen und aufs Gymnasium schon gar nicht. Aus ihr wird ja sowieso nichts.
Schlechte Noten können die Gefühlswelt von Eltern und Kindern durcheinanderbringen. „Es ist natürlich, dass sich Eltern Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen. Aber wenn sie aus der Fassung geraten, stecken meist ihre eigenen Ängste und Erwartungshaltungen dahinter“, sagt Angelika Klabunde, Dipl.-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin in der Salus-Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Stendal. Sie rät zunächst zu Gelassenheit. Bei anhaltenden Problemen sollten die Eltern genau prüfen, woran Misserfolge liegen. Entgegen voreiliger Schlüsse („Hast du wieder zu wenig gelernt!“ oder „Konzentriere dich doch einfach mal!“) sollte man dem Kind genau zuhören und bei den Hausaufgaben oder Übungen dabei bleiben. Weiterhin sollten die Eltern prüfen, ob alle wichtigen Rahmenbedingungen erfüllt sind. Schläft das Kind ausreichend? Sind alle Schulmaterialien vorhanden? Hat es einen geordneten Arbeitsplatz für die Hausaufgaben? Benötigt es Unterstützung, um ausreichend zu üben? Gibt es zu viele Aktivitäten neben der Schule? Bestehen psychische Belastungen, familiäre Schwierigkeiten oder Probleme mit Lehrer*innen und Mitschülern? Bei anhaltendenden Schwierigkeiten könnte das Kind mit der gewählten Schulart überfordert sein. Möglicherweise steckt dahinter aber auch eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Rechenschwäche. Dann ist die Hilfe von Fachleuten gefragt.
Kein Kind schreibt gern und mit Absicht schlechte Noten. Das Bedürfnis nach Wachstum und Entwicklung hat die Natur uns Menschen in die Wiege gelegt. Doch wie an einem Baum nicht alle Früchte gleichzeitig reif sind, entwickeln sich Kinder in unterschiedlichem Tempo. „Jedes von ihnen ist ein Individuum, das seine eigenen Strategien finden muss, um sich Wissen anzueignen und seine Talente zu entfalten. Dabei darf es auch Fehler machen, um daraus zu lernen. Eltern sollten sich auf diesem Weg als Helfer anbieten“, sagt Angelika Klabunde.
Die Mutter von Thomas beispielsweise spürt, wie ihr Kind unter der Situation leidet und reagiert mit Zuwendung und konkreten Fragen. Die Eltern von Nora dagegen schwächen mit Ablehnung und Strafen die Beziehung zu ihrer Tochter. Vielleicht wird Nora eines Tages wirklich abhauen. Schlimmer noch: Sie fühlt sich wertlos. „Wichtig ist, nicht mit Vorwürfen und Anklagen die Persönlichkeit des Kindes in Frage zu stellen, sondern auf das aktuelle Ereignis einzugehen: Diese Arbeit ist in die Hose gegangen. Was brauchst du, damit es beim nächsten Mal besser läuft? Anderenfalls kann sich beim Kind die Grundüberzeugung entwickeln: Ich bin ein Versager!“, erklärt die Psychologin.
Keine Frage: Die Schule ist ein wichtiger Lebensabschnitt, der ernstgenommen werden muss. Mäßige Leistungen in bestimmten Fächern sind jedoch kein Indikator dafür, in welchem Maße Menschen im weiteren Leben ihre Stärken entwickeln und einbringen können. Auf die Persönlichkeit kommt es an. So wie der*die Klassenbeste nicht automatisch Professor*in wird, landet der*die schlechte Schüler*in nicht zwangsläufig auf der Straße. Zu den gern zitierten „prominenten Schulversager*innen“ gehört übrigens ein berühmter Vornamensvetter des kleinen Thomas aus unserer ersten Geschichte: Thomas Mann. Ob sich seine Mutter Sorgen machte, als er das Gymnasium nach der 10. Klasse „nur“ mit der Mittleren Reife verließ? Heute gehören die Werke des Literatur-Nobelpreisträgers zum Unterrichtsstoff und Schulen in ganz Deutschland tragen seinen Namen.
Hinweis
Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und erhebt nicht den Anspruch, alle Facetten der komplexen Thematik zu beleuchten.