Als Vater starb, blieb Mutter allein zurück. Das über eine zeitliche Distanz von fast 60 Jahren enger, liebevoller Ehe geübte System eines guten Zusammenlebens zerbrach: eine kleine, heile Welt, die beide geschützt und in der sie sich gegenseitig gestützt hatten. Der neue Alltag des Alleinseins stürzte Mutter in eine hoffnungslose Hilflosigkeit. Jede Kleinigkeit wuchs zu einem unüberwindlichen Problem auf. Manchmal sagte sie, fühle sie sich wie Alice im Wunderland: Alles werde einfach zu groß.
Mit dem Tag an dem klar wird,
dass die Eltern Pflege brauchen
... beginnt ein Rollentausch, der sich fremd anfühlt. Der Boden tradierter Autorität erodiert, es ist ein für beide Seiten schmerzlicher Prozess. Manche beschreiben es als ein Meer von Untiefen, in das neu auszuloten die ganze Familie aufgebrochen sei. Andere einfach nur als „Hölle“ angesichts einer Überfülle neuer Aufgaben, die die erwachsenen Kinder neben einem stressigen Arbeits- und Familienalltag nun zusätzlich zu bewältigen haben. Dabei hofft jede der Seiten unausgesprochen, dass es doch bitte nur eine Episode bliebe und das normale (bequeme) Leben von zuvor wieder zurückkehren möge. Und weiß doch: Es ist der Lauf der Zeit. Die Eltern sind alt. Und sie vertrauen darauf – und dürfen darauf vertrauen –, dass die Kinder übernehmen: die Verantwortung, die Entscheidungen, das Organisieren von Hilfe.
"Pflegebedürftigkeit" ist ein Wort
..., das der Gesetzgeber geprägt und Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden hat. Es beschreibt jenen Augenblick, aus dem heraus gesetzlich Kranken- bzw. Pflegeversicherte ihre Ansprüche auf Leistungen der Pflege und Fürsorge geltend machen können. Seit 2017 definiert das Sozialgesetzbuch XI die Kriterien neu und stellt Fragen, nach denen sich die Zuordnung in einen der fünf Pflegegrade ergibt: Was kann der Mensch noch allein? Und wobei benötigt er personelle Unterstützung? Doch neben all den notwendigen Bürokratien – ein Neuland, das alle Betroffenen gleichermaßen betreten: Beantragungen von Pflegeleistungen bei der Kranken- bzw. Pflegekasse, Feststellung der Pflegebedürftigkeit durch den Medizinischen Dienst, Bewilligung oder Widersprüche, Klärung von Finanzierungsfragen, Organisieren eines Pflegedienstes/das Finden einer Pflegeperson – beginnt für die Kinder der pflegebedürftigen Eltern ein Leben, das sich zwischen Fürsorge, Aufopferung, Überforderung, Wut, Abgrenzung und nicht selten einem ewig schlechten Gewissen bewegt.
Heim oder nicht Heim?
Als Mutter ein weiteres Mal in ihrer Wohnung gefallen und nur mit Glück eine größere Verletzung ausgeblieben war, riet der häusliche Pflegedienst (dreimal täglich plus Mittagslieferung), nun doch besser einen Heimplatz zu suchen. Dort, in der behüteten Gemeinschaft und der sicheren Präsenz von Pflegekräften, wäre sie doch besser aufgehoben. Auf die Ohnmacht bei den Kindern, nicht noch intensiver für die Mutter da sein zu können, folgte das Entsetzen und die bittere Enttäuschung bei Mutter: „Jetzt schieben sie mich ab.“
„Die Angehörigen kommen zu mir, sie berichten von ihren pflegebedürftigen Eltern und der oft unausweichlichen Situation, die sie hergeführt hat“, schildert Jeanette Isenthal Momente ihres Alltags als Fachbereichsleiterin Altenpflege im Salus-Altenpflegeheim Uchtspringe. „Sie schauen sich in unserem Haus um und ich sehe die unausgesprochenen Fragen in ihren Augen: Ob Mutter oder Vater es wohl schaffen werden, sich hier einzuleben, sich einzulassen auf dieses Neue und Andere. Und ich versuche ihnen aus meiner Erfahrung heraus zu vermitteln, dass sie das Richtige tun und wir hier mit all unseren Kräften bestmögliche Hilfe anbieten.“
Das psychografische Pflegemodell
Gleich 30 Jahre arbeitet sie in der Einrichtung mit heute 51 Plätzen für pflegebedürftige Menschen mit geistigen und seelischen Behinderungen, demenziellen oder anderen altersspezifischen psychischen Störungen. Sie hat hier gelernt und sie ist geblieben: „Ich fand die Arbeit mit Menschen, die so viel erlebt haben, spannend und erfüllend“, was zu dem psychobiografischen Pflegemodell nach Prof. Erwin Böhm führt, an dem man sich hier orientiert. Es gewährleistet eine „reaktivierende und bewohnerbezogene Pflege“ und schöpft aus der Biografie, insbesondere den ersten 25 bis 30 Lebensjahren, der „Prägungszeit“ des Bewohners. Hier darf Frau X wieder das Hannelörchen sein, wie sie schon ihre Mutter rief, und darauf vertrauen, dass Eigenheiten und Befindlichkeiten als Normalität akzeptiert und uneingeschränkt berücksichtigt werden. Alice darf im Wunderland sein.
Vertrauen in die Einrichtung und das Personal
Viele derer, die hier einen Platz erhalten, haben bereits eine Reise durch Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen hinter sich. „Wir wollen, dass jeder ganz und gar bei uns ankommt mit seinen persönlichen Dingen, Bildern, Möbeln. Und ist zusätzlich gut versorgt mit den angegliederten Salus-Kliniken.“ Jeanette Isenthal wirbt für die Altenpflege im Heim, um Vertrauen in die Einrichtung und in das Personal. Und argumentiert gegen die einseitige mediale Berichterstattung, die allein die Probleme in den Mittelpunkt stelle und damit Angehörige verunsichere.
Das Heim ist nicht das Ende, sondern oftmals der Anfang
... von einem endlich wieder von Regelmäßigkeit, Gemeinschaft, Zuwendung, Fürsorge und ganzheitlicher Versorgung getragenem Alltag – ein Zustand, den viele alte Alleinstehende in ihrem einsamen Zuhause schon lang vermissen. Mit dem Tag, an dem klar wird, dass die Eltern Pflege brauchen, wird die Frage, ob der Weg auch in ein Heim führen könnte, unausweichlich sein. Und es gut für alle, sich so früh wie möglich und gemeinsam darüber klar zu werden. Um der Liebe willen und aus tiefem Respekt vor dem Leben des Anderen.
Hinweis
Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und erhebt nicht den Anspruch, alle Facetten der komplexen Thematik zu beleuchten. Er darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung verwendet werden und kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.
Fachliche Begleitung
Jeanette Isenthal